Zum Buch: Max, Moritz, Nenad

© Text Lina Hofstädter
©Zusammenstellung: TAK – Tiroler Autoinnen und Autoren Kooperative
©Cover: Kassian Erhart, Grafische Gestaltung: Silke Sporn
ISBN 978-3-900888-82-4
TAK, Innsbruck 2023
Erhältlich im Buchhandel und bei office@tak.co.at

Was als Dummer-Jungen-Streich beginnt, wird
strafrechtlicher Ernst. Neun Tage, in denen
das Leben, nicht nur der jugendlichen Übeltäter,
sondern auch jenes vieler anderer Menschen
für immer auf den Kopf gestellt wird. –
Max und Moritz, eine seit mehr als hundert
Jahren als lustig-leichte Unterhaltung geliebte
Moritat von Wilhelm Busch, wird hier in die
heutige Zeit und ins Reale übertragen und erweitert:
Wie kommen Heranwachsende aus
sogenannter guter Familie in unserem so gesichert
scheinenden Umfeld dazu, ins Kriminelle
abzurutschen? Was passiert darauf mit ihnen,
mit ihren Familien, ja sogar mit den ermittelnden
Beamten?

Leseprobe

Ach, was muss man oft von bösen
Kindern hören oder lesen!
Wie zum Beispiel hier von diesen,
welche Max und Moritz hießen ...
WILHELM BUSCH

 

 

Montag, 18. Oktober

Der kleine Bach da, der kam Max irgendwie richtig vor. Da
war er schon mal gewesen. Den hatte er als Kind mit Ästen
gestaut. Glaubte er zumindest. Wollte er glauben. Schließlich
verließen sich die andern beiden voll auf ihn.
Ja, er war sich jetzt sicher. Da, auf der Lichtung hatte er mal
Würstel gegrillt. Ewigkeiten war das her, diese Sonntagsausflüge
mit den Eltern. Wasser ist überlebensnotwendig. Das weiß man,
auch wenn man keine einzige Folge von „Dschungelcamp“ gesehen
hat.
Würstel grillen! So einfach war das Leben mal gewesen.
Vielleicht hatte er seine Kumpels ja deshalb im Stockdunkeln
hergelotst. Blöde Psychologisiererei. Irgendwohin mussten sie ja.
Und Baumdickicht das prototypische Versteck, klaro.
Moritz und Arkan waren noch nie so tief im Hernauer Wald
gewesen. Die hatten mit Natur nix am Hut. Und eine bessere
Idee hatten sie auch nicht gehabt. Hatten ja allesamt keinen
Plan im Moment. Hat sich bloß so ergeben. Blöd halt. Fast wie
bei Stephen King. Da gehst du harmlos am Abend aus, packst
vorher noch die Schulsachen für morgen zurecht, und dann gerätst
du in irgendwas rein und – wumms! – du landest voll in
irgendeiner Scheiße, im Wald, wo auch immer.
Echt gruselig war der Weg mitten in der Nacht gewesen:
unsichtbare Äste, die dir ins Gesicht schlagen, Bruchholz, das
knackst und knarrt, wenn du draufsteigst. Wie brechende Knochen.
Keiner hatte reden mögen. Moritz hatte nervtötend vor
sich hin gesummt. Und dann war auch noch so ein Tier knapp
vor ihnen aufgeschreckt. So was fährt dir durchs Rückgrat direttissima
hinauf ins Hirn. Irgendwie war es ein echtes Wunder,
dass er diesen Platz im Dunkeln überhaupt gefunden hat.
Und jetzt hatten sich Moritz und Arkan wie zwei Tote ins
Moos geschmissen und pennten. Max war dazu viel zu aufgekratzt.
Das Handy zeigte 5 Uhr 12 an. Ihm kam es vor, als
wären sie tagelang gelaufen. Da oben, zwischen den Baumwipfeln,
schien’s, wenn man lange genug hinaufschaute, schon ein
bisschen heller zu werden. Man konnte jetzt Fichten und Föhren
unterscheiden. Schon komisch, dass man sich sowas merkt,
obwohl’s völlig irrelevant ist und man in BiU immer auf Durchzug
geschaltet hatte ...
Max bibberte jetzt plötzlich vor Kälte. Moritz hatte sich ganz
in Arkans Lederjacke eingewickelt, während der im T-Shirt zusammengerollt
schlief. Der war ein harter Hund, wirklich. Max
hätte sich jetzt gern zu Moritz unter die Jacke gekuschelt, aber
das ging nicht, echt nicht.
Stattdessen klammerte er die Arme um sich, aber das half
wenig. Panik schieben und Nacht und Kälte und Wald war eine
schlechte Kombi. Moritz musste sie da irgendwie raushauen.
Dem fiel doch immer was ein.
Gut bloß, dass er, Max, voll auf Zack, gestern wenigstens
die Geldtasche aufgehoben und das Geld rausgenommen hatte.
Jetzt hatten sie zumindest 180 Euro. Nicht gerade viel, aber immer
noch besser als blank.
Arkan atmete ganz regelmäßig. Pennte beinhart. Bei Moritz
war Max sich nicht so sicher.


Arkan wachte mit einem Grunzer auf. Er warf einen Ast
knapp an Max’ Kopf vorbei, dass der vor Schreck auffuhr. Er
musste doch noch eingeschlafen sein. Es war hell, jetzt. Max
streckte die klammen Arme von sich. Dabei stieß er Moritz
an, der reichlich verwirrt zwischen geschwollenen Lidern heraus
blinzelte. Max warf den Ast zu Arkan zurück. Der wischte
sich die Tannennadeln aus dem Haar und dem verknitterten
Gesicht. „Ich hab saumäßigen Hunger!“ Ja, Max knurrte jetzt
auch der Magen. Scheiße! Kein Frühstück weit und breit! Auch
Moritz schaute missmutig. Man würde sich auf die Suche nach
Essbarem machen müssen. Okay. Und in zirka einer Stunde
wieder hier treffen. Mal sehen, was sich fände.
Max beschloss, den Bach entlang aufwärts zu gehen. Moritz
und Arkan trollten sich in die andere Richtung.
Sie hatten natürlich alle miteinander keinen Tau, was hier
genießbar sein könnte und was nicht. Im Dschungelcamp hatten
die sogar Würmer und Rinden verdrückt. Besser nicht dran
denken! Und dann ploppte auch noch das Wort „Tollkirsche“ in
Max’ Gehirn auf, aber keine Ahnung, wie die aussah.
Der Magen krampfte jetzt girrend wie eine tonlose Ziehharmonika.
Ob’s in dem Bach Fische gab? Arkan hatte sicher
sein Klappmesser dabei. – Der Großvater hatte Max mal erzählt,
dass sie als Kinder Forellen mit der Hand gefangen und
dann mit dem Taschenmesser ausgenommen hatten. Nein,
lieber doch nicht. Nicht zum Frühstück. Beim Gedanken an
herausquellendes Blut und Schleim wurde ihm ganz schlecht.
Max dachte an den Kühlschrank in der Küche, an aufgebackene
Brötchen, so dick bestrichen, dass man die Zahnabdrücke
in der Butter sah. An Marillenmarmelade und warmen Kakao.
Jetzt lief sein Magen endgültig Amok.
Ein paar Pilze im Moos sahen genießbar aus, aber darauf
konnte man sich nicht verlassen. Zudem musste man die ja irgendwie
kochen. Wäre allerdings lustig, wenn’s magic mushrooms
wären ...
Schließlich fand er Heidelbeeren. Er stopfte sich eine Handvoll
in den Mund, die Handflächen nun dunkellila. Er hatte
nichts dabei, um Beeren zu transportieren, also aß er eben, soviel
er konnte, und bildete sich ein, davon satt zu werden. Dann
setzte er sich auf einen Baumstrunk und putzte die Hände am
Moos ab. Griff drauf in die Hosentasche, aber die Marlboros
musste er unterwegs verloren haben.
Es war sowas von einsam da, einsamer geht’s nicht. Bloß
dämliches Vogelgezwitscher. Robinson Crusoe. Daraus hatte
ihm die Mutter als Kind vorgelesen. Arg, dass ihm jetzt ständig
so kindische Sachen einfielen.
Er griff nach dem Smartphone. Daneben raschelte die Rolle
Geldscheine. Keine einzige SMS. Auf Facebook auch nichts.
Also zog er sich ein paar Hits von YouTube rein. Sie könnten
ja ihren Waldaufenthalt verfilmen. Das wäre geil, daraus ließe
sich vielleicht eine Sache machen. Aber natürlich erst später mal.
Max schaute auf die Uhrzeit. Nicht mehr lange und die anderen
würden in der Klasse sitzen und sich vor Langeweile anpissen.
Und die Matheschularbeit ab der zweiten Stunde – nein,
der Wald war doch nicht die schlechteste Alternative. – Wenn
man das Frühstück mal beiseite ließ.
Man könnte ja auf einem Schiff anheuern, zum Beispiel.
Bloß: zum Meer waren es ein paar hundert Kilometer und dann
müsste man sich ja auch noch Pässe besorgen. Vielleicht kannte
Arkan irgendwen, Arkan hatte Beziehungen. Das war der Vorteil
bei den Migranten.
So ein Scheiß, dass ausgerechnet Arkans ehemalige Klassenlehrerin
daherkommen musste! Da waren sie gelaufen. Aber natürlich
zu spät. „Nenad!“, hatte sie ihm nachgeschrien. Arkan
hatte atemlos geflucht: „Diese ausgefickte Sau! Ausgerechnet
die!“ Max wusste nicht, was Arkan mehr aufregte: dass jemand
ihn erkannt hatte oder dass sie ihn bei dem verhassten Namen
rief. Und wer rechnet schon damit, dass spätnachts noch Geistaustreiberinnen
unterwegs sind? Wirklich ein unglaubliches
Pech. Blieb nur zu hoffen, dass sie ihn und Moritz nicht gecheckt
hatte unter ihren Hoodies.
Und jetzt konnte Arkan nicht mehr zurück. Er besaß ja nicht
mal ne Staatsbürgerschaft. War seinen Eltern zu teuer gewesen.
– Man würde ihn abschieben, bestimmt, jetzt, wo der Krieg da
unten vorbei war. Aber er und Moritz ließen einen Freund nicht
im Stich, niemals. Das war echt saublöd gelaufen diesmal.
Bei der Sprayeraktion im Juli wären sie auch beinahe erwischt
worden. Aber eben nur beinahe.
Da mussten sie sich echt was einfallen lassen. Vor allem
brauchten sie ein Auto ...
Der VW Polo seiner Mutter. Während die in der Arbeit war,
könnte man die Karre fladern. Einziges Problem: die alte Hexe
Lohmann nebenan, die den ganzen Tag hinter den Vorhängen
lauerte. Jemand müsste sie ablenken, während er ins Haus flitzte
und den Reserveschlüssel holte. Und Arkan müsste es derweil
über die Zufahrt bis in die Garage schaffen. Wenn sie erst mal
im Auto säßen, könnte sie die Lohmann von oben nicht mehr
erkennen. Aber ob der Zweitschlüssel überhaupt in der Schublade
bei den anderen Schlüsseln lag? So viele Dinge, um die man
sich nie gekümmert hatte. – Max dämmerte, dass er bis gestern
ein ziemliches Kind gewesen war.
Hätten sie die Karre erst einmal auf der Straße, wäre der
Rest ja einfach. Auf einem abgelegenen Parkplatz Nummernschilder
ummontieren. Dauert nicht länger als zwei Minuten,
sagt Arkan, und der kennt sich mit Autos aus. Hat einen Führerschein
und arbeitet nicht umsonst in der Werkstatt von seinem
Onkel. Oder könnte dieser Onkel helfen? Die Familien bei
denen halten ja zusammen wie Pech und Schwefel, regeln alles
intern. Niemals die Bullen, hat Arkan gesagt. Arkan wird das
schon irgendwie hinkriegen. Wenn er Scheiß baut, löffelt er ihn
auch wieder aus. So ist der. Dann könnten er und Moritz wieder
nach Hause. Mit irgendeiner Geschichte halt. Irgendwas wird
ihnen schon einfallen.
Nur ein Jammer, dass sich die Tiger auflösten, wenn Arkan
zum Abgang gezwungen war. Und das war er jetzt wohl. Aber
nein. Niemals. Max wollte nicht daran denken.
Max war der erste, der zum Lagerplatz zurückkehrte. Dabei
war die Stunde längst vorbei. Kein Arsch da. Wenn ihn die
beiden im Wald sitzen ließen? Blödsinn! Das würden sie nie
tun, niemals. Er tastete nach dem Papierknäuel in der Jackentasche.
Ohne das Geld kamen die nirgendwo hin. Hoffentlich
hatten sie sich bloß nicht verlaufen. Moritz und Arkan waren
miteinander da hinunter und er hing jetzt allein hier rum. Ein
Stich von Eifersucht. Und wenn man sie erwischt hatte? Nein,
so blöd waren die beiden nicht.
Immerhin ein Abenteuer, das alles. Wie langweilig das Leben
früher mal war! Was für ein Baby er gewesen war. Bevor es
die Tiger gab. Kein Wunder, dass die meisten aus seiner Klasse
täglich Dübel oder Tabletten reinzogen, um über die Runden
zu kommen ... Max öffnete die Videodateien. Die Aufnahme
von gestern total verwackelt. Man sah rein gar nichts. Aber das
war jetzt eh egal. Ins Netz konnten sie die Sache sowieso nicht
mehr stellen. Zwölf Actions hatten sie sich vorgenommen. Und
zur Halbzeit schon gescheitert ...


Die Fahrräder standen kommod hinterm Supermarkt. Nicht
mal abgesperrt. Moritz stand Schmiere, während Arkan kurz
die Luft in den Reifen prüfte und sie dann um die Ecke schob.
Danach erst widmeten sie sich den Kisten und Kartons. Entschieden
sich für die roten und ein paar gelbe Äpfel, auch das
Brot vom Vortag war noch passabel. Natürlich nicht vergleichbar
mit den Semmeln vom Ladstätter, aber auch noch nicht
wirklich hart. Arkan hielt die Einkaufstüte auf, während Moritz
einscheffelte. Sogar ein paar Packungen eingeschweißten Bergkäse.
Kein bisschen Schimmel. Zu verbrauchen bis 16. Oktober.
Grad mal zwei Tage her.
„Kein Streichkäse?“, flüsterte Arkan.
Moritz wühlte tiefer, fand aber nichts.
„Das reicht eh. Zischen wir die Kurve.“
Sie schwangen sich auf die Räder und sausten davon.


Anna Braunheimer lag im Bett. Es klingelte rosarot in ihren
Dämmerschlaf. Dann lila. Dann eckig mittendurch, wie
ein scharfer schwarzer Strich. Jemand war an der Haustür. Der
soll sie lieber schlafen lassen. Sie brauchte Schlaf, um wieder
zu Kräften zu kommen. Das Nicht-Mehr-Klingeln blieb hängen.
Beunruhigend wie weißes Rauschen. Der Radiowecker
zeigte fünf nach acht. Wer? Wer um alles in der Welt wollte
sie um diese Zeit sprechen? Sie versuchte wieder einzuschlafen,
aber jetzt hämmerte das Herz in wildem Rhythmus. Durch das
Geklingel war sie aus dem Takt geraten. Die Brust zurrte zusammen.
Anna griff mit zittrigen Fingern nach der Nachttischschublade.
Eine halbe Tablette, das würde genügen. Nur noch
ein bisschen Schlaf. Schlaf. Es schluckt sich schwer. Immer so
sperrig, diese erste Tablette am Morgen. Dann wird es besser.
Nur eine halbe, hatten alle Ärzte gesagt, die ihr das Lexotanil
verschrieben. Immer nur eine halbe. Langsam steigern. Aber
immer nur eine halbe. Daran hielt sie sich ...
Sie spürte die Wanderung der Partikel durch das Adernge-
flecht. Sah es direkt vor sich, wie die weiße Scheibe zerbröselte
und durch die immer kleineren Adern schoss, bis sie in Fingern
und Zehen anlangte. Es war gut. Sie döste wieder davon ...
Um halb elf schreckte sie hoch. Etwas stimmte nicht. Im
Schlaf hatte sie sich in die Decke gewickelt wie in ein Leichentuch.
Ihr war bang und sie schwitzte. Kein Laut im Haus außer
die Herzschläge im knochigen Brustkorb. Etwas war falsch.
Aber was? Das Zittern begann von Neuem. Diesmal stärker.
Eine unbenannte Katastrophe waberte durch den Raum ...
grinste von den Wänden ... Nichts stimmte. Alles war anders
als sonst ... noch eine halbe ... es war zwar noch früh, aber sie
brauchte die drei Milligramm, um die Geister zu vertreiben ...
Sie lehnte in die Kissen zurück und entspannte. Die glühend
engen Wände kühlten ab, wurden langsam hellgrau, schließlich
nichtssagend weiß. Man konnte wieder atmen. Plötzlich wusste
sie, was heute anders war. Der Kaffee stand nicht da. Der Kaffee,
den ihr Moritz in der Früh immer brachte. Der Kusshauch auf
der Stirn. Das „Mach’s gut, Mom.“ Das alles fehlte. Moritz fehlte!
Sie musste nach ihm sehen. Aber sie war noch zu schwach,
um aufzustehen. Vor Mittag würde sie es nicht schaffen. Aber
Moritz. Wenn er krank war? Hilflos im Bett so wie sie ...
Anna nahm alle ihre Kräfte zusammen, entwirrte die Bettdecke
und hievte sich in eine sitzende Position. Moritz. Was
war doch gleich mit Moritz? Kein Kaffee. Ja. Kein Kaffee. Kein
Moritz. Moritz war krank. So wie sie.
Sie starrte auf das gerahmte Foto an der Wand. Den glänzenden
braunen Pferdebauch mit den Adern unter der Haut. Glatt
und glücklich wie ein Babybauch. Damals, lange bevor Moritz
sicher verwahrt seiner Zukunft entgegenstrampelte. Großvater
Moritz hoch zu Ross, in schneidiger Uniform. Für Gott, Kaiser
und Vaterland. Mit 26 Jahren groß und schlank, wie alle Rizzolis.
Damals noch Von Rizzoli.
Sobald das Pferdebild zu verschwimmen drohte, holte sie es
zurück. Daran konnte man sich halten, wenn es unerträglich
wurde. Die Schmerzen. Der Kopf.
Bertram hatte sie auch im Reitclub kennen gelernt. Fesch.
Ein Wunder, dass er sich ausgerechnet um sie bemühte. Sie war
nie hübsch gewesen. Kinn und Nase zu lang, die schrägen Augen
bestenfalls interessant, die Figur viel zu mager, kaum nen-
nenswerter Busen. Sie hatte sich mit dreiundzwanzig damit abgefunden,
übrig zu bleiben. Und dann Bertram ... und Moritz ...
eigentlich hatte sie viel Glück gehabt ...
Irgendetwas stimmte heute nicht. Moritz war davongeritten.
Auf einem braunen Pferd. Aber Moritz konnte doch gar nicht
reiten?
„Moritz!“ Ihre Stimme reichte nicht einmal bis zur Schlafzimmertür.
Panik schrämte schon wieder längs durch den Körper, lähmend
wie ein Stromstoß.
Anna spürte, wie ihr eine Träne übers Gesicht lief, aber sie
fand nicht die Kraft, die Hand dahin zu heben. Sie musste aufstehen
und nach ihrem Kind sehen. Wenn nur die Beine nicht
so wässrig und weich ...
Dennoch gelang es ihr irgendwie, in die Pantoffeln und auf
die Füße zu kommen. Ihr armer Bub war mit seiner kranken
Mutter wirklich geschlagen! Benommen tastete sie sich auf den
Flur, dann die Treppe hinauf.
Das Chaos in Moritz’ Zimmer! Sie war schon lang nicht
mehr da gewesen. Und das Hausmädchen offenbar auch nicht.
Ulrike soll gleich heute Nachmittag hier Ordnung machen, die
Wäsche am Boden zusammenlesen, die Bücher ins Regal stapeln
... Moritz würde natürlich toben. Er hasste es, wenn jemand an
seine Sachen ging. Vielleicht zuerst mit ihm reden. Er vertrug
sich mit Ulrike überhaupt nicht. Und vice versa.
Warum war sie jetzt heraufgekommen? Moritz war um diese
Zeit ja in der Schule. Natürlich.
Bedächtig stieg sie die Treppe wieder hinab. Am Badezimmerspiegel
schaute sie tunlich vorbei. Sie mochte ihr Gesicht
nicht. Überhaupt am Morgen. Aber es ließ sich nicht umgehen,
wenn man Makeup auftragen wollte. Da muss man sich dem
eigenen Anblick stellen. Leider. Mit zweiundvierzig gleicht ein
Lidstrich einem Hürdenlauf. Wenigstens war ihre Hand jetzt
ruhig. Nach getönter Tagescreme, Lippenstift und Konturstift
konnte man wieder von einem Gesicht sprechen. Das aschblonde,
fast schon graue Haar allerdings blieb strohig, da half alles
nichts ...
Trotzdem blieb im Untergrund eine vage Unruhe. Da war
etwas gewesen. Etwas mit Moritz.
Erst als sie die Küche betrat, fiel es ihr wieder ein: Der Kaffee.
Sie hatte heute noch keinen Kaffee getrunken. Die Küche,
makellos aufgeräumt, schien seit gestern unbenützt. Moritz war
in die Schule gegangen, ohne sich zu verabschieden. Moritz
machte ihr jeden Morgen Kaffee. Jetzt hatte er sein Frühstück
vergessen und sie auch ...


Max saß im Moos und schaute sich die Szene am Display
wieder und wieder an. Dafür, dass dies ihr erster Versuch gewesen
war, brauchten sie sich nicht zu schämen. Arkan von hinten.
Das tarngraue Kapuzenshirt und die weite Skaterhose mit der
aus der Gesäßtasche baumelnden Kette bewegten sich rhythmisch
mit dem Arm mit, hinter dem der Wortzug „Fuck you
all“ mit den zwei übereinander gelegten L seiner Vollendung
entgegen ging. Dann hatte Max voll hingezoomt, auf die Spraydose
und die Hand mit dem großen Ring, den Arkan zu besonderen
Gelegenheiten trug. Wahrscheinlich hatte er den gepfost,
der sah nämlich ziemlich echt aus. Die Kamera folgte nun in
Nahaufnahme den Bewegungen der Hand, als diese das Tag
der Tiger anbrachte. Dann wackelte das Bild, und man hörte
ihr Schnaufen, als sie davonliefen. Sie hatten die Aufnahme
hochgeladen und inzwischen dreihundertfünfzehn Zugriffe.
Natürlich hatten sie ein bisschen nachgeholfen, indem sie es im
Pausenhof herumzeigten und darauf hinwiesen, dass die Action
doch sehr dem Piece neben dem Eingang ähnelte, das der
Schulwart vor einer Woche fluchend überstrichen hatte.
Und dann war da ja auch noch sein zweites Werk: „Ein echter
Arsch“. Die Action hatten sie super vorbereitet. Es war alles
nach Plan gelaufen. Nur dass es dann Peter war, der die Rolle
übernahm, und nicht, wie zuerst geplant, der dicke Ferdl. Natürlich
hätte Ferdl mehr hergemacht, aber der war krank geworden.
Pfeiffersches Drüsenfieber, auch kissing disease genannt,
hatte ihnen die Englisch Lehrerin mitgeteilt. Ausgerechnet
Ferdl, diese Pfeife! Die ganze Klasse hatte sich darüber zerkugelt.
Peter schaut da ganz schön blöd aus der Wäsche. Der checkt
ja nie was. Am besten war der Zoom auf seinen nackten Spitzarsch
in der Schlusssequenz. Max kicherte. Das Bild amüsierte
ihn jedes Mal aufs Neue. Dann horchte er auf. Unten am Weg
war wer im Anmarsch. Man hörte Quietschen und ein Holpern
von Rädern. Ein Vogel flog kreischend auf. Hinter dem
Wacholderstrauch die einzige Deckung weit und breit. Schnell
raffte Max seine Jacke zusammen und verkroch sich. Am Ende
hatten sie Moritz und Arkan aufgegriffen und kamen ihn jetzt
suchen?
Doch dann erkannte er Moritz. Zuerst am Raucherhusten,
dann am schlenkernden Gang der hageren Gestalt, die ein
schwer beladenes Fahrrad den Hang herauf bugsierte. Eine
blonde Strähne hing ihm ins verschwitzte Gesicht. Die Pickel
glühten dunkelrot vor Anstrengung, das sah man, sobald er näher
kam. Hinter ihm Arkan mit seinem einseitigen Grinsen. Für
ihn waren die paar hundert Meter den steilen Waldweg herauf
keine Herausforderung. Schließlich trainierte er täglich im FTC.
Auf den Fahrradständern und an den Lenkstangen baumelten
prall gefüllte Plastiktüten, die sie vor Max auf den Boden
knallten. „Wie schaust denn du aus?“, fragte Moritz. „Hast Express-
Zahnfäule gekriegt?! Igitt! Wie in einem drittklassigen Horror-
film!“
„Heidelbeeren“, antwortete Max.
„Da haben wir Besseres!“, meinte Arkan und leerte den Inhalt
einer der Einkaufstüten ins Moos: Brote, abgepackte Käseschnitten,
Kekse, sogar Paprika-Chips. Max rann das Wasser
im Mund zusammen.
Moritz zerrte eine alte Wolldecke vom Ständer, die ziemlich
stank. „Vom Bauernhof“, meinte er entschuldigend. „Bio-imprägniert.“
Er breitete die Decke aus, und darauf die Lebensmittel.
Nun zog Arkan, mit großer Geste, eine Flasche aus
einem schwer an seinem Fahrrad hängenden Einkaufssack.
„Hey, wo kommt denn das her?!“ Nicht einmal Moritz hatte
mitgekriegt, dass Arkan hinterm Stadel vom Bauernhof, wo
sie Zwischenstation gemacht hatten, zwei Sechserpack Bier entdeckt
hatte. Sie beklatschten den grandiosen Glücksfall.
Nachdem sie sich fürs erste gestärkt und in Ruhe eine geraucht
hatten, machten sie sich daran, Bruchholz für die nächste
Nacht zu sammeln. Viel fand man ja nicht. Typisch österreichischer
Ordnungswahn, sogar der Wald total aufgeräumt,
befand Arkan und warf die zerknüllte Chips-Verpackung hinter
sich.
Ob es gescheit sei, Feuer zu machen? Man könnte den Rauch
von der Landstraße aus sehen, gab Max zu bedenken. Aber die
anderen fanden, dass diese Gefahr gegenüber dem Komfort von
etwas Wärme vernachlässigbar sei. Und schließlich leiteten sie
mit Steinen und Wurzeln noch ein Rinnsal des Baches in eine
Mulde, um das Bier zu kühlen. All diese Geschäftigkeit erinnerte
Max schon wieder an die Spiele aus Kindertagen.
Moritz legte sich mit einer zweiten Flasche genüsslich ins
Moos.
„Gefällt mir langsam, die Natur hier.“
Arkan schwieg und schaute dem Zigarettenrauch nach.
„’N bisschen ruhig.“
„Willst horchen?“ Max hielt ihm den iPod hin, in dem 5o
Cent hämmerte.
„Du solltest Akku sparen“, meinte Moritz. „Keine Ladegeräte,
keine Steckdosen hier. Checkste?“
Max hielt Moritz’ Vorsorge für übertrieben, sein Akku hielt
mindestens noch drei Tage, drückte dann aber doch auf Off.
Arkan rülpste.
„Schwein!“
„Gottlob es gibt auch stille Leute/ die meiden dies Gewühl
und hassen’s / und bauen auf der andern Seite / sich eine Welt
des Unterlassens ...“
„Was ist denn das für’n Scheiß?“
„Old dablju Busch.“
„Aha.“
Dablju Busch, den mit dem s-c-h, kannte sogar Arkan. Sie
hatten ihm die Sache mit Max und Moritz erklärt. Wollten sich
ursprünglich „Buschmänner“ oder so was nennen. Aber „Tiger“
war dann eindeutig besser.
Max staunte wieder einmal, wie mühelos Moritz’ Gehirn jeden
Blödsinn speicherte. Der musste nie lernen, brauchte bloß
drüberzulesen und schon hatte er es im Kasten. Wahrscheinlich
war Moritz so ein Autist. Die merkten sich alles und konnten
ganze Städte nach einmal Überfliegen bis aufs letzte Fenster
genau aufzeichnen, Telefonbücher herunterrattern, lauter so
Sachen. Max fand das zwar blöd, aber es nötigte einem doch
Respekt ab. Noch dazu, wo Moritz es trotzdem geschafft hatte,
in der fünften Klasse durchzufallen ...
„Hand me another bottle, buddy“, sagte Moritz.
Max sprang auf und holte sie ihm.
Vom Essen und dem Vormittagsbier unter der wärmenden
Sonne, die jetzt zwischen den Baumstämmen durchkam, und
von den Aufregungen der vergangenen Nacht immer noch erschöpft,
döste einer nach dem anderen davon.


Kathi Wenger fühlte sich nicht gut. Obwohl sie sicher das
Richtige getan hatte. Aber irgendwie war es doch ein Verrat.
Sie hatte sich solche Mühe mit Nenad gegeben, damit er die
Hauptschule abschließen konnte. Ein Kind, das aus dem Krieg
kam, musste so viel lernen. Selbstvertrauen kriegen. Und Vertrauen.
Wie die Katze, die sie aus dem Tierheim geholt hatte.
Die hatte auch ein Jahr lang gekratzt, wenn man sie streicheln
wollte.
Nenad war ja eigentlich gar nicht so gewesen. Nur verschlossen.
Ein düsteres rundes Gesicht, so hatte sie ihn in Erinnerung.
Und einen Fünfer nach dem anderen.
Sie erinnerte sich an die Sprechtage, wo sein Vater und seine
Mutter Hand in Hand demütig vor der Klassentür gewartet
hatten. Es war schwer gewesen, sich mit ihnen zu verständigen,
obwohl der Vater schon halbwegs Deutsch sprach. Aber sie hatten
nicht verstanden, dass es für den Buben schwierig war. Dass
man Fortschritte nicht in Noten bemessen konnte. Dass er es
schon schaffen würde. Immer wieder hatte der Vater von ihr
Strenge gefordert. Sie solle ihm ruhig eine runterhauen, wenn
er störrisch sei. Geduldig hatte sie ihm erklärt, dass das hierzulande
verboten war. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und es
seiner Frau übersetzt, die dann noch trauriger dreinblickte.
Dass Nenad nach dem Bosnienkrieg als gebürtiger Serbe
auch noch andere Schwierigkeiten hatte, konnte sie ihnen gar
nicht sagen. Das hatte sie nur zufällig mal aus ihm herausgekriegt,
als er nachsitzen musste. Rotzig hatte er ihr auf ihre Vor

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