Zum Buch: Im Schneckenhaus

© Limbus Verlag Hohenems 2009

 

Umschlagfoto © Sebastian Ziebell
Druck: Finidr, s.r.o.

 

ISBN 978-3-902534-28-6
www.limbusverlag.at

 

Erhältlich im Buchhandel und bei Limbus
www.limbusverlag.at

 

Ein fauler Kompromiss - mehr
hat Etelka nicht zuwege gebracht.
Seit fünf Jahren nun lebt sie halb
getrennt von ihrem Mann Paul
und hat sich in ihrer großbürger-
lich gutsituierten Bequemlichkeit
gut eingerichtet. Unkraut, Schäd-
linge und Langeweile gilt es zu
bekämpfen - bis Franziska in ihr
Leben tritt.

Paul ist fünfundsiebzig und gut
in Form. Ein bequemes Arrange-
ment mit seiner Ehefrau Etti lässt
ihm alle Freiheiten, die er sich
nehmen will. Nur mit den Frauen
hat er abgeschlossen. Das denkt
er zumindest - bis Fanny in sein
Leben tritt.

 

Multiperspektivisch und mit teils
lakonischem, teils makaberem
Humor erzählt. Lina Hofstädter
eine aufregende Dreiecksgesch-
te, die in den unmöglichsten
Situationen überraschende
Wendungen nimmt.

Leseprobe

    Sie horchte nach unten. Wie jeden Morgen beim Aufwa-
chen. So wie sie früher auf die Atemgeräusche im Bett neben
sich gehorcht hatte. Kein Geräusch. Natürlich, es war vier
Uhr fünfundzwanzig und stockdunkel. Doch das besagte
nichts. Manchmal, gerade wenn sie im Begriff war, in den
Schlaf zurückzufinden, polterte und rumorte er im unteren
Stock schon in aller Herrgottsfrühe. Im vergangenen Winter
hatte er die Gewohnheit entwickelt, zu solchen Nachtzeiten
Schnee zu räumen, mit der Schaufel unrhythmisch über den
Asphalt der Einfahrt zu kratzen. Ihre einzige Genugtuung
war dann, dass er offensichtlich auch unter Schla?osigkeit
litt.
    Jahrzehntelang hatte sie den Zorn und die Unruhe be-
zwungen, die den Schlaflosen zusätzlich quälen, nur um Paul
nicht zu wecken, und war Tag für Tag unausgeschlafen den
banalen Alltagstätigkeiten' entlanggetaumelt. Spätabends,
wenn sie erschöpft, wie in Watte gewickelt im Bett lag, um
endlich ein bisschen Ruhe zu ergattern, hatte der Fernseher
ins Schlafzimmer herübergedröhnt, bis Paul irgendwann im
Dunkeln hereintappte und nach ein paar Umwälzungen in
dumpfen Atemzügen, die zunehmend lauter wurden, ver-
sank, während sie, scheinbar schlafend, Stunde um Stunde
wachlag. Es hätte nichts genützt, etwas zu sagen. Er ahnte ja
nichts. Jahrelang. Jahrzehntelang. Seither hasste sie die Fins-
ternis mehr als alles andere.
    Jeden Morgen sechs Uhr dreißig der Wecker. Aufstehen.
Ein Blick aus dem Fenster und aufs Thermometer. Kakao,
zwei Butter- und Marmeladebrote für sich. Zwei Tassen Kaf-
fee, Schinken und Eier, Margarine wegen des Cholesterin-
spiegels für ihn. Die Zeitung, deren Bilder auf der letzten
Seite sie während des Frühstücks über den Tisch hinweg be-
trachtete. Die ersten Seiten bekam sie erst nach einem knap-
pen Kuss auf die Wange und einem gemurmelten „Bis dann“
zu lesen. Den Frühstückstisch abräumen, Teller in den Ge-
schirrspüler, die Zeitung in den Altpapiercontainer im Keller.
    Heute pflegte sie die Zeitung dort herauszuholen, sobald
er weg war. Meist war sie dann drei bis vier Tage alt. Immer-
hin. Früher hatte er niemals die alte Zeitung weggeworfen.
Es war ihre Aufgabe gewesen, seinen Müll zu entsorgen.
    Etti hätte gern Licht gemacht. Vielleicht gelesen. Doch
das war schlecht für die Augen. Und womöglich würde er
den Lichtschimmer bemerken, falls auch er wachlag. Sie
wollte nicht, dass er ihre Schwachstelle entdeckte. Nicht
jetzt, nach vierzig Jahren. Das wäre dumm. So rauschte die
Stille weiter in ihren Ohren, unterbrochen vom plötzlichen
Knacken des Dachgebälks. Die Finsternis gab ihr manchmal
das Gefühl, schon nicht mehr vorhanden zu sein.
    Also begann sie im Dunkeln mit Gymnastikübungen. Die
Finger spreizen und schließen. Spreizen und schließen. Ein
Widerstand von Tonnen in jedem einzelnen Gelenk. Doch
sie besaß Durchhaltevermögen. Wenig Widerstandskraft,
doch Ausdauer. Jeden Tag fünf Mal diese Übungen. Zwanzig
Mal die Finger, zwanzig Mal die Zehen. Spreizen, schließen.
Anspannen, zudrücken. Dann der Nacken. Den Kopf von
links nach rechts rollen. Von rechts nach links. Zehn Mal. Es
knirschte in den Wirbeln. Macht nichts. Noch lebe ich.
    Daraufhin Knie und Hüfte. Knie abwinkeln, nach links
neigen, Schultern nach rechts rollen. Das zieht in der Hüfte
und unterm Rippenbogen. Links, rechts. Den Nacken nicht
verkrampfen. Nur das nicht. Nur nicht in diese vom Leben
gebeugte Altfrauenhaltung verfallen.
    Jeden Morgen die Übungen. Man verliert an Bewegungs-
radius, dachte sie, das ist das Hauptproblem. Täglich verengt
sich die Welt. Bis du gar keinen Platz mehr einnimmst, ver-
schwindest. So einfach ist das. Darauf läuft alles hinaus, wie
auf die letzte Windung im Schneckenhaus.

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