Zum Buch: Ausapern

© Limbus Verlag Hohenems 2007

Druck: Gruner Druck, Erlangen
Korrektur: semikolon - Büro für Korrektur
und Lektorat - www.semikolon.co.at

ISBN 978-3-902534-10-1
www.limbusverlag.at

 

Vergriffen. Restexemplare bei der Autorin erhältlich

 

Tirol Triologie, Teil 1

 

Umbres, ein kleines Dorf im Tiroler Mittelgebirge.
Es ist Frühjahr und der Schnee schmilzt, doch
heuer apern nicht nur braune Wiesen aus. Ein
Gewehr wird gefunden, das einem ehemaligen Nazi
gehört haben soll. Ausapern tut auch ein Leiche,
die sich als Zeithistoriker entpuppt, der über die
braune Vergangenheit einiger Umbrer geforscht
hat. Plötzlich war jeder im Widerstand, früher, und
jeder ist verdächtig...

Leseprobe


Weihnachtsferien

 

    Um drei Uhr früh begann der Schnee zu fallen.
Polsterte die Mittelgebirgsstille über Umbres, das in
die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage hineinschlief.
Bald würde er knöcheltief die braunen Äcker bede-
cken, wie der Staubzucker die Zimttorten in den Spei-
sekammern. Noch ahnte keiner, dass er sich zwei Wo-
chen lang Schicht um Schicht auftürmen und nicht
nur die fünfunddreißig Häuser des Weilers und ein zu
Ende gehendes Jahrtausend samt dreißigjähriger so-
zialistischer Regierungsepoche, sondern auch einen
Erschossenen in erstaunlicher Ruhe unter sich begra-
ben würde.


    Kathi rieb sich die Augen. Die Lichtstreifen in den
Ritzen der Rollläden blendeten sie. Draußen lärmten
die Draxlerbuben. Aah! Die Arme unter dem Kopfpols-
ter verschränken. Nicht aufstehen müssen. Keine
Schule. Ferien bei Oma und Opa. Und morgen ist
Weihnachten. Endlich den neuen Anorak und die
Snowboardausrüstung auspacken. Kathi sah der Be-
scherung mit der abgeklärten Ungeduld der Zehnjäh-
rigen entgegen, deren Wünsche sich stets erfüllt hat-
ten. Nur das Hündchen hatte sie nie bekommen, ob-
wohl sie es Jahr für Jahr auf den Wunschzettel
schrieb. Immer hieß es: Omas Pekinesen kriegen
demnächst Junge. Da muss man nur Geduld haben.
Inzwischen war sie groß genug um zu begreifen, dass
man sie hineingelegt hatte. Einmal hatte sie Opa ne-
benbei gefragt, ob Jackie und Jet womöglich kastriert
seien - das Wort war ihr bei einem Straßengespräch
Erwachsener untergekommen - und er hatte geistes-
abwesend genickt: Natürlich, ja doch. Sie ließ sich
nichts anmerken, doch sie beschloss, die Erwachse-
nen in Zukunft mit deren eigenen Tricks zu betrügen.
So schrieb sie den Hundewunsch alljährlich auf den
Zettel, wohl wissend, dass dieser gestrichen würde.
Damit war alles andere gesichert.
    Schade, dass Mama und Papa nicht da waren. Die
verbrachten die Feiertage in der Karibik. Am Globus
ein grüner Pünktchenschwarm auf blauer Fläche.
Kein richtiges Land, eher eine bunt schillernde Raupe.
Exotisch, hatte Mama gesagt.
    Jetzt standen die Eltern, wenn das Flugzeug recht-
zeitig angekommen war, irgendwo in der Verlängerung
der Bettpfosten auf dem Kopf. Aber daran mochte Ka-
thi lieber nicht denken, obwohl man ihr erklärt hatte,
dass einem das nichts ausmachte, wenn man es erst
einmal gewöhnt war.
    Kathi war freiwillig daheim geblieben. Schließlich
gab es auf den Inseln keine Christbäume und keinen
Schnee und vor allem keine Weihnachtsgeschenke.
Dann schon lieber bei Oma und Opa in Umbres. Imp-
fen hätte sie sich auch lassen müssen. Und sie hasste
es, wenn der Doktor behauptete, es tue überhaupt
nicht weh, und ihr scherzend die Nadel in den Arm
rammte.
    Noch ein paar Umdrehungen tiefer in die Daunen
kuscheln. Heuer waren Freunde von Oma und Opa zu
Besuch. Gestern hatten sie den ganzen Abend unver-
ständliches Zeug geredet. Einer hieß Friedhelm - ko-
mischer Name! Man stellt sich dabei vor, dass er einen
Helm anstatt dem Kopf auf den Schultern hat - und
Oma wollte auch noch, dass sie ihn Onkel nannte.
Dabei hatte dieser Friedhelm überhaupt nichts On-
kelhaftes an sich. Er schaute über einen hinweg und
ignorierte es, wenn man etwas sagte.



    Den anderen, Michael, konnte Kathi besser leiden.
Den hätte man schon Onkel nennen können. Der legte
aber keinen Wert darauf. Sein schmales Gesicht mit
den ein bisschen traurigen Augen lächelte manchmal
verschwörerisch zu ihr herüber, wenn auch nicht ganz
klar war, warum. Und Michael mochte auch Evelyn
ganz gern, die ihn ebenfalls, obwohl sie mit diesem
Onkel Friedhelm hergekommen war und mit ihm im
oberen Gästezimmer gleich neben dem von Kathi
schlief. Evelyn schien in Ordnung, sie war auch jün-
ger als die anderen, und Kathi hatte noch nicht he-
rausgefunden, ob sie Friedhelms Tochter oder seine
Freundin war. Jedenfalls hatte sie sich gleich zu den
Hunden auf den Boden gesetzt und Jackie an ihren
Socken knabbern lassen. Außerdem hatte Evelyn ein
Snowboard dabei. Und wenn Kathi übermorgen ihre
eigene Ausrüstung bekam, konnte sie von Evelyn be-
stimmt allerhand Tipps bekommen.
    Jetzt aber auf! Man roch den Schnee durchs ge-
kippte Fenster. Die Flocken wirbelten wie Papier-
schnipsel vorbei und wenn man lange genug hin-
schaute, hatte man das Gefühl, als ?öge man auf und
davon, hinweg über die Häuser am Hügel und den
Haumerhof unten in der Ebene. Der Wald dahinter
und die Arzener Schrofen blieben im Schneegewirr
unsichtbar. Als säße man am Ende der Welt.
    Armin und Peter Draxler von nebenan waren schon
dabei, Schnee für einen Rodelhügel aufzuhäufer? und
die kleine Regine versuchte eifrig, alles wieder ?ach zu
treten.
    „Ah, du bist wach, Schatz! Ist das nicht eine
Pracht? Schau doch nurl“ Oma ist immer ganz aufge-
kratzt, wenn sie nach Umbres kommt. Die Natur! Das
Wetter! Die gute Luft! Alles vom Herrgott für uns ge-
macht! Aber ansonsten ist sie in Ordnung. „Zieh dich
jetzt bitte an. Gleich kommen alle zum Frühstück
herunter.“ Schade. Ohne die blöden Gäste hätte man
bis Mittag im Pyjama bleiben können.
    Vor der gläsernen Schiebetür des Kleiderschranks
schnitt Kathi eine Grimasse. So schaute dieser Fried-
helm aus, wenn er sprach, gar nicht friedlich: Eckig
hochgezogene Brauen, unzählige Furchen auf der
Stirn, den Mund zu papiernen Fältchen verkniffen.
Ständig redete er und Opa hörte ihm nickend zu. Wie
Evelyn. Ihr Gesicht: Zerstreutes Lächeln, Kopf leicht
schräg gelegt, die Augen in weite Ferne gerichtet. Ein
bisschen verträumt sei das Mädel, meinte Oma.
Wahrscheinlich aber hatte Sie bloß „Onkel“ Friedhelms
Geschichten schon tausendmal gehört. Erst wenn sie
sich Michael zuwandte, wachte ihr Gesicht auf. Dann
warf Sie die dunklen Locken über die Schultern und
lachte wegen allem und jedem.
    Jetzt stürmten die Gäste die Aluminiumtreppe
herunter: „Da wird's Touristen schneien drüben in Ar-
zen!l“ - „Wenn die Tirol-Werbung nicht wieder ein
modernes Werbekonzept er?ndet!“ Ein überlaut her-
ausgepresster Lacher vom sogenannten Onkel folgte.
Am besten, man zog gleich die Schisachen an. Den
Pullover mit den Mangas vorn drauf. Und die warme
Strumpfhose. Bis Kathi hinauskäme, würde die
Schanze der Draxlerbuben fertig sein.

    Als sie vors Haus trat, gritzte die Schneeschaufel
drüben am Weg hinter Draxlers Einfamilienhaus über
den Asphalt. Unterbrochen von Markarts Flüchen,
wenn sie am Rand hängen blieb.
    Markart Möltsch war schlecht aufgelegt. War er
immer. Zog seinen von einer dicken Wollkappe be-
deckten Schädel ein und schob ruckend und ?uchend
weiter.
    Hans Draxler, der an seinem Auto Ketten anlegte
und dessen Teil vom Weg bereits geräumt war, sah
kurz auf: „Ah, Kathi! Bist auch wieder einmal da!
Suchst die Buben? Die sind grad zum Wäldchen hin-
über, um eine Sprungschanze zu bauen. Mit der Regi-
ne ist das im Garten keine Sachel“ Am Balkon des
hinteren Häuschens schüttelte Therese, Markarts un-
förmige Frau, ein ebenso unförmiges buntgeblümtes
Federbett aus. Ihr Gesicht erschien Kathi noch dick-
wangiger als sonst. Und mit den viel zu großen, dun-
kelroten Flecken auf den Wangen sah sie aus wie Frau
Holle: „Wennst einen Moment wartest, kommt die Else
mit. Die holt grad ihre Schier aus dem Keller!“ Ihre
Stimme klang, als hätte sie einen Knödel im Hals.
    Kathi wartete und schaute aus sicherer Entfer-
nung, wie Markart sich zu Draxlers Weggrenze Vorar-
beitete. Die Kinder fürchteten seinen Zorn, der sich an
irgendetwas au?aden und dann beliebig auf irgendje-
mand niederfahren konnte. Kathi wunderte sich, wie
Else das aushielt. Auch seiner Frau schienen Mar-
karts Launen nicht viel auszumachen. Die schlurfte,
wenn er zu schreien an?ng, einfach davon und zuckte
gleichgültig die Schultern. „Wenn er seinen Zorn hat,
musst du ihn nur machen lassen“, hatte Else sie ein-
mal über die Gep?ogenheiten im Hause Möltsch auf-
geklärt.

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